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Taiji und Therapie

Taiji und Therapie, Raimunds Weg - Jan SilberstorffTaiji-Meister Jan Silberstorff: Raimunds Weg aus der Angst und Depression

Wenn wir von Gesundheit sprechen, was meinen wir eigentlich damit? Zuallererst wohl den reibungslosen und schmerzfreien Ablauf aller körperlichen Prozesse. Dazu ein geistiges Gleichgewicht. Eigentlich den Zustand, dass wir ‚ungestört‘ leben können. Aber was ist das, unser Leben? Zuallererst wohl der biologische Kontext. Was aber bedeutet Leben für uns? ‚Unser‘ Leben? Da ist zunächst der Alltag. Unser äußeres Leben: Familie, Beruf, Freunde, Aktivitäten – kurz: das Leben leben und erfahren. Und jede Abweichung von obig benannter Gesundheit nimmt uns von der Qualität, unser Leben entsprechend genießen zu können. Eine stabile Gesundheit stellt also das Fundament unserer Lebensqualität. Natürlich auch unserer Lebensspanne, sprich der zeitlichen Möglichkeit zu diesem Genuss.

Aber da ist noch etwas anderes, was das Leben ausmacht, ja ihm den ganz essentiellen Sinn gibt. Und gerade dies andere ist ein wesentlicher Schlüssel zur Gesundheit. Es ist unsere Besinnung auf unsere Quelle, unseren Ursprung. Der gewöhnliche Mensch zielt mit allem, was er tut auf ein Äußeres, durch dessen Gelingen er sich Befriedigung und dadurch Wohlbefinden, sprich Glück erhofft. Das Außen dient der Stimulierung des Innen. So sollte es daher doch auch möglich sein, dieses Innen direkt zu stimulieren, ohne vom Außen abhängig zu sein. Und weiter: Ist das Außen zumeist auch der Ausdruck unseres inneren Vermögens, so sollte sich bei einer Klärung des Inneren gleichermaßen eine Harmonisierung des Außen einstellen.

Folgen wir der sowohl physikalischen, als auch mystischen Vorstellung, dass alles aus dem Nichts ins Sein gerät und von dort sich auch wieder ins Nichts auflöst, so erkennen wir in dem Nichtsein die Tendenz zum Sein und in dem Sein die Tendenz zum Nichtsein. Beides steht in Bezug zueinander. Wenn es also die Bestimmung des Nichtseins ist, zu sein, dann ist es verstehbar, dass es die Bestimmung des Seins ist, ins Nichtsein zurückzukehren. Was bedeutet dies?

Nichts anderes, als was wir in allen Kulturen, zumeist ausgedrückt durch ihre Religionen, vorfinden: Der tiefere Sinn des Lebens besteht und ergibt sich aus der Verehrung, sprich der Erkenntnis seiner Quelle. Der Schöpfergott, der Urgrund, das Nichts:

Immer ist die Rückbesinnung zu der eigenen Herkunft und Quelle der Garant für ein erfülltes, inneres Leben, welches dann auch seinen Ausdruck in der äußeren Lebensgestaltung erhält. Was aber findet statt bei dieser Rückbesinnung? Zuerst ist da die Besinnung: Wir werden ruhig, kehren ein in unseren Geist und beschauen. Was beschauen wir? Unser Inneres. Wir ‚rück‘besinnen – d.h. wir beschauen die tiefe Einheit unseres Seins anstelle der nach außen strebenden Vielheit. Wir suchen die Einheit: in der Tiefe unseres Geistes. Wie können wir das? Durch Konzentration. Wie erlangen wir die? Durch die Freiheit von Ablenkung. Und hier ist eine ruhige, meditative Umgebung genauso hilfreich, wie ein ruhiger, zentrierter Körper. Ist unser Körper in Einheit, kann der Geist diese umso leichter finden und umgekehrt. Das ganzheitliche Wesen kann sich in seiner Zentrierung vollständig entfalten. Je mehr mir also meine Rückbesinnung gelingt, umso wohler fühle ich mich. Warum? Je mehr ich meinen Geist entleeren kann, umso klarer, weiter, wohliger und freudiger wird er. Je mehr sich mein Körper entspannt, umso mehr kann alles frei fließen, nichts wird behindert, er kann optimal arbeiten. Es entsteht Wohlgefühl. Dies erreiche ich, indem ich dem Körper die Möglichkeit gebe, sich optimal entspannen zu können. Hierzu gehört zwangsläufig die richtige Körperhaltung, da sonst Spannungszustände nicht aufgelöst werden können, versuchen diese doch im Ungleichgewicht Gleichgewicht zu halten.

Somit wird klar, dass Gesundheit also nicht nur die Abwesenheit von Krankheit ist, sondern ein aktiver Prozess der Einheit von Körper und Geist in einer strukturiert zentrierten Art und Weise, so dass diese Einheit von Auf- und Belastung frei wird. So werden Körper und Geist in Einheit frei, klar, weit, wohlig und freudig. Dies ist der Zustand, der uns die Quelle fühlen lässt. Aus dieser Seligkeit schöpfen wir die Energie und Kraft für alle unsere nun tugendhaften Taten. Drücken wir es mit dem Konzept von Dao und De aus: De ist die Tugend und als ureigene Kraft die Wirkkraft des Dao – und somit das Dao selbst. Kann ich mich also dieser Wirkkraft wieder anschließen, so schließe ich mich wieder dem Dao an, werde eins mit ihm und erlange das vollständige Leben. Dieses vollständige, wahrhaftige Leben ist ein Leben in ganzheitlicher Gesundheit und ein Schöpfen aus der Quelle zu der Quelle.

„Das Dao ist nicht fern vom Menschen, es ist der Mensch, der sich vom Dao entfernt.“ (Großmeister Chen Xiaowang, heutiger Stammhalter des ursprünglichen Taijiquan).

Somit ist klar, dass ganzheitliche Gesundheit immer ein geistiger und physischer Prozess im Hinblick auf unsere Schöpfung ist, aus, durch und zu der wir dann kreativ tätig sind.

 

Vielleicht hilft es, dies an dem Heilungsweg von Raimund Burke und seiner persönlichen Erfahrung hierin zu verdeutlichen:

„Angefangen hat alles vor elf Jahren. Ich hatte schwere generalisierte Angstzustände und Depressionen. Ich begann eine Gesprächstherapie, aber es wurde immer schlimmer. Nach einem seelischen und psychischen Absturz war klar, dass ich auf professionelle Hilfe angewiesen war: Selbst der Tod meines Katers löste eine fiese Panikattacke nach der nächsten aus, ich saß nur noch zitternd in der Ecke. Ich kriegte das alleine nicht mehr in den Griff und wollte „in Obhut“ genommen werden. Es folgten 8 Wochen stationäre Behandlung in der renommierten psychosomatischen Klinik in Rissen. Danach musste ich den Alltag neu erlernen und alleine klar kommen. Damals für mich unfassbar. Nach diesem tiefsten Tal musste ich also eine Möglichkeit finden, mich mehr dauerhaft zu stabilisieren, mir also selber Halt zu geben, ohne dabei auf irgendwelche Medikamente zurückzugreifen. Denn die funktionieren bei mir nicht und führten manchmal sogar genau in die falsche Richtung. Außerdem empfinde ich das als „rumdoktern“ am Symptom, statt strukturell etwas grundlegend zu verändern.

Zu der weiterhin andauernden Gesprächstherapie musste also etwas ohne Medikamente her, was einen dauerhaften Erfolg haben würde. So etwas wie eine persönliche Stütze. Über ein paar Umwege bin ich dann zum Taijiquan gekommen, was mich sehr interessierte. Noch aus dem AK Rissen organisierte ich daher meine Unterrichtstunden in dieser sanften Bewegungs- und Kampfkunst. Dies Taijiquan wurde mir über die Zeit, durch die physisch geistigen Übungen, aber auch durch die Gespräche, in denen eine sehr klare Sicht der Dinge hervortrat, zu dieser großen Stütze. Diese Veränderungen waren aber gar nicht so einfach und haben gedauert. Es brauchte Zeit. Aber der Nutzen ist, wie ich heute feststellen muss, dafür umso nachhaltiger.

Ich baute mir mit der Zeit ein professionelles Auffangnetz für das Taijiquan auf. Therapeuten und Ärzte drumherum, sozusagen als Sicherheit. Je nachdem, was gerade gebraucht wird. Auch meine Familie war für mich ein wichtiger Baustein, der mir sehr geholfen hat.

Die Erkenntnisse und Erfahrungen, die ich in der Gesprächstherapie theoretisch gemacht habe, konnte ich nun gerade auch in den Partnerübungen des Taijiquan auf einer körperlichen/energetischen Erfahrungsebene wiederfinden. Meine Schwierigkeiten zeigten sich hier und auch in den Handformen in Form von Blockaden: Es traten z.B. bestimmte Charakterzüge, die einen an bestimmten Handlungen hinderten, deutlich zutage. So etwas wie „zu zögerlich zu sein“, oder „sich nicht durchsetzen zu können oder trauen“, eben für sich selber einzustehen. Den eigenen „Standpunkt“ zu vertreten, wenn man so will. Solche Blockaden wurden hier bereits früh erfahrbar. Ich merkte: eine Gesprächstherapie hatte hier für mich seine Grenzen. Immer weiter zu analysieren, konnte mich auf die Dauer durchaus auch mehr verwirren und ermüden, als mir helfen.

So konnte ich über die Zeit an der äußeren Taiji-Form arbeiten, damit die innere Struktur gestärkt, bzw. überhaupt erst einmal aufgebaut wurde. Hierdurch veränderte sich im wahrsten Sinne des Wortes meine inneren Haltung. Spätestens seit die körperliche Strukturarbeit im Taijiquan für mich fühlbar geworden ist, setze ich mich ganz anders für mich selber ein. Man „steht“ ganz anders da. Und zwar automatisch, intuitiv. Und dies setzt sich im Geistigen fort und umgekehrt.

Im Rückblick kann ich sagen, dass mir gerade das Taijiquan, und auch die innere, quasi imaginäre Beschäftigung mit diesem System, sehr sehr oft geholfen hat.  Nur zwei kurze Bespiele:

Erstens: Ich fuhr neulich mit dem Auto zu meiner Mutter, die ca. 280 Kilometer entfernt lebt. Ich musste leider noch am gleichen Abend zurückfahren. Alleine gefahren zu sein, und nicht in der gewohnten geschützten Umgebung zu bleiben, war allein schon schwierig für mich. Im Dunkeln, bei schlechter Sicht zu fahren, machte es noch schwerer. Und so kam es leider auch dazu, dass ich fast die gesamte Rückfahrzeit von über 3 Stunden eine Panikattacke nach der anderen zu meistern hatte. Früher, ohne die inzwischen fühlbare Taiji-Struktur, wäre ich wahrscheinlich direkt durchgedreht. Wer sich mit Panik- und Angstattacken auskennt, der weiß wovon ich rede. Das ist kein Spaß und man versucht mit allen Mittel, solche Situationen zu vermeiden. Heutzutage ist es immer noch extrem schwierig, aber ich konnte mich inzwischen wieder soweit „runterbringen“, dass ich weiterfahren konnte.

Ängste setzen sich gerne im oberen Brustkorb fest. Man zieht die Schultern hoch und verkrampft den ganzen oberen Körperbereich.

Durch das Taijitraining habe ich aber gelernt, diesen Bereich zu lösen, zu öffnen und tiefer zu entspannen. Erstmal ist das nur eine äußerliche Anwendung. Aber sie hat einen ganz wesentlichen Einfluss auf die „innere Haltung“. Man entspannt sich tatsächlich, sogar in einer solchen Situation. Man hält die Angst nicht mehr in der Brust und im Nacken fest.

Ich habe sogar während der Fahrt Taiji-Übungen machen können. Also nicht nur im Kopf „gearbeitet“, sondern körperlich mitgemacht. So gelang es nach und nach, die Fahrt sicher nach Hause zu „schaukeln“. Ich war zwar völlig erledigt, aber ich war zuhause.

Zweitens: Früher tauchten manchmal, ganz plötzlich, immer abends und nachts, heftigste Drehschwindelattacken in Kombination mit extremen Angstzuständen auf. Ich hatte keine Chance mehr, auch nur gehen zu können. Wenn sich alles so schnell vor den Augen dreht, ob geschlossen oder nicht, ist das unmöglich.

In den letzten Jahren stellte sich aber auch meine Taiji-Struktur ein. Ich konnte sie also fühlen. Irgendwann kam wieder so eine Attacke. Und bei dem Versuch zur Toilette zu kommen – auf diesem Weg bin ich sonst im Kriechen noch umgefallen – konnte ich gehen! Zwar gebückt und wackelig, aber ich konnte laufen. Das war so deutlich aufs Taiji zurückzuführen, dass ich selbst in der Situation noch lächeln musste. Es fühlte sich an, als würde ich von 5 Seiten gleichzeitig geschubst werden. Und immer konnte ich wieder ausgleichen. Ich hatte mein Zentrum im Griff.

Taijiquan hat mich positiv und dauerhaft beeinflusst. Es hilft mir dabei, besser durch den Tag zu kommen. Ich empfinde das als Segen und großes Geschenk. Und das, obwohl ich mich mit dem regelmäßigen Training sehr schwer tue. Aber die Kontinuität über die Jahre zahlt sich eben aus.

Auch wenn ich weiterhin erwerbsunfähig bin, eben nicht so „funktioniere“, so hilft mir das Taijiquan trotzdem jeden Tag. Und ich versuche es immer ein bisschen weiter auszubauen. Es ist einfach etwas, das immer bei mir ist, an dem ich mich immer orientieren kann.

Auch die Musik, die ich professionell betreibe ist eine große Stütze für mich. Wenn auch insofern sehr schwierig, da ich durch meine Einschränkungen psychisch und körperlich nicht live auftreten kann, um sie zu promoten.“

 

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Foto: © Jan Silberstorff

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